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Von: Alexander

” Insgesamt sicher ein ziemlich großer Arbeitsauftrag.”

Durchaus. An einigen amerikanischen Universitäten hat das dazu geführt, das eigene Kurse angeboten werden, fachübergreifend und in der die Serie dann Betrachtungsgegenstand für ein oder mehrere Semester sein kann. Insoweit hat diese Medienform den Charme, das sie es erlaubt, sich kreativ mit tatsächlichen sozialen Problemen, deren Verschleierung oder Verzerrung durch Medien und Alltagserfahrung usw. transparent zu machen. Da kommen dann Literatur- und Medienwissenschaftler mit Stadtgeographen, Soziologen und Politikwissenschaftlern zusammen.

Hinsichtlich des grundlegenden Strukturkonflikts wollte ich auf eine phasenverschobene Betrachtung hinaus. Wenn wir z.B. Bourdieus Habitus-Feld-Theorie voraussetzen, dann wird sozialer Sinn in jedem Feld neu ausgehandelt, wobei historisch, politische und sozialstrukturelle Faktoren, die Spielregeln weitgehend bestimmen und die jeweiligen Akteure darauf reagieren und ihren Habitus adaptieren und anpassen. Das ließe sich dann tatsächlich je Staffel auf das zentrale Feld der Auseinandersetzung übertragen: Ghetto/Drogenhandel, Hafen/Schwerindustrie, Rathaus/Kommunalpolitik, Schule/Bildungssystem und Redaktion/Medienwesen. In der letzten Staffel wird dann aber eine aus meiner Sicht sehr materialistische Antwort gegeben: alle Felder konvergieren um identische Abstraktionen, wobei das Geld eine zentrale Rolle einnimmt. Während Luhmann von konvertiblem Medium spricht, kann man hier durchaus eine sozioökonomische Gelddefinition anwenden: Profit/Gewinn und Kapitalakkumulation als treibendes Element. Und tatsächlich geraten alle Protagonisten in Geldprobleme oder kommen mit Geldflüssen in Kontakt.

Pierre Bourdieu hätte einen Ökonomismus nicht gelten lassen, das wäre auch zu krude, sondern vielmehr sollte dargelegt werden, dass der jeweilige Habitus an die Ausprägung von Kapitalsorten gebunden ist. Neben ökonomischen Faktoren gehören dazu auch soziale Regeln und symbolische Derivate, kulturelle Eigenlogiken wirken transhistorisch. Mit Bourdieu lässt sich an dieser Stelle eine Scharnierfunktion zwischen Marx und Weber einnehmen: wir haben eine durch den Antagonismus von “Kapital” und “Arbeit” geprägte Arbeits- und Erwerbsgesellschaft, in der stratifizierte Klassen/Schichten ihr Leben zu gestalten suchen, wobei für die Mehrzahl der Menschen in ‘The Wire’ eben dieses Leben determiniert ist (nicht als Automatismus, aber als strukturelle Komponente oder Wenn-Dann-Beziehung).

Ich greife an dieser Stelle aber auch nur auf Simons eigene Lesart zurück. Gerade im Zuge der Finanzkrise sind aber insbesondere in den USA machttheoretische Fragen wieder aufgeworfen worden (vgl. die Arbeiten von David Harvey, die aus sozialgeographischer Sicht Fragen der städtischen Eigentums-, Mitbestimmungs- und Teilhabeformen aufwirft). Für Deutschland ist eine Serie wie ‘The Wire’ schwer vergleichbar, weil es weder diese bisweilen “akzeptierte” Form der Ghettoisierung gibt (man spricht hier ja eher von “sozialen Brennpunkte” und Orten mit geringer “sozialer Mobilität”) und sozialpolitische bzw. wohlfahrtsstaatliche Surrogate bereitstehen. Das Bild, das Simon ausmalt zeigt ja eine sehr düstere, haltlose Situation in der der Vertrauensverlust bereits soweit forangeschritten ist, dass die öffentlichen Institutionen unterminiert sind und ein Anomiezustand nur mit Zynismus, aber auch einer Absenkung der Gewaltschwelle einherzugehen scheint. – Selbst wenn Baltimore den Statistiken des FBI zufolge tatsächlich die höchste Mordrate aufweist (im Vergleich: Berlin hat m.W. nur ein Viertel an Mordzahlen je Kalenderjahr). Wenn du dich z.B. an die erste Staffel erinnerst, wird dir vielleicht noch die sinnlose Polizeibrutalität als leere “Gegengewalt” bewusst sein: die Leute, die zunächst noch als Sympathieträger fungierten (Greggs, Sydnor, Carver) hauen mit Gummiknüppeln auf die Minderjährigen ein, sodass es einem unbefangenen Zuschauer eigentlich nur den Atem verschlagen kann. Und es gibt etliche dieser Szenen, die diese Entfremdung, Leere und Sinnlosigkeit gut wiedergeben. Das heißt, selbst dort, wo Bezugsgruppen versuchen, ihre Sozialmoral und Gruppenidentität gegen Dritte abzusichern (einzelne Polizeieinheiten gegen den Major oder den Captain, gegen andere Ermittlungseinheiten usw., gegen die Ghettokids), wird die aus dem Alltag auch uns vertraute Frontstellung sehr fassbar und daher m.E. auch un-fassbar.


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